Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 9.
Else bekam den Ball in den Rücken, als sie gerade über das Chinaschilf gebeugt stand, um es zurückzuschneiden. Wenig erfreut kam sie hoch und blickte sich um, woher das Geschoss wohl gekommen sei. Da raschelte es auch schon in der Kirschlorbeer-Hecke neben ihr, und in einer Lücke zwischen den lädierten Zweigen erschien Tom und lugte herüber. Der Fünfzehnjährige wohnte mit Schwester Laura und Mutter Steffi im Mehrfamilienhaus um die Ecke. Der Gemeinschaftsgarten des dreistöckigen Hauses stieß an der kurzen Kopfseite mit dem von Heinz und Else zusammen. „Tschuldigung!“, brachte der wortkarge Teenager heraus und blickte Richtung Ball, der nun hinter Else auf dem Rasen lag. Else sah ebenfalls kurz nach dem Ball, dann wieder zu Tom, stellte die Hände in die Hüften, zog eine Augenbraue hoch und wartete. Sie kannte Tom und seine Schwester Laura schon seit fünf Jahren. So lange wohnten sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter bereits nebenan. Und die Bälle, die Else oder Heinz in dieser Zeit schon aus ihren Stauden geklaubt und über den Zaun zurückgereicht hatten, waren ungezählt. Und die Frisbees. Federbälle. Schuhe. Einmal sogar Lauras Badeanzug.
Jetzt wartete Else, dass ein wenig mehr Reaktion von dem Jungen kam. Der sank ein wenig weiter in sich zusammen, als Else ihren Mürrische-Alte-Dame-Blick auf ihm niederlies und die Stille sich mit jedem Moment zementierte. Else wusste genau, welche Wirkung solche Blicke auf Kinder und Jugendliche haben konnten, wenn sie nur früh genug damit in Berührung kamen. Tom und Laura hatten im Laufe der Jahre schon reichliche Mengen dieser Blicke geerntet. Und sie hatten gelernt: mit Sturheit kamen sie da nicht weiter. Deshalb entschied sich Tom nun auch zu einem weiteren Satz: „Entschuldigung, Frau de Winter, könnte ich meinen Ball wiederbekommen?“. Bewusst zögerlich nickte Else nun, hob den Ball auf, warf ihn mit noch immer gehobener Augenbraue wieder über Zaun und Hecke zu den Nachbarn zurück. „Danke“, rief Tom im Gehen und raschelte sich durch die Hecke zurück dem Ball hinterher. Die Erleichterung, hier ohne weitere Standpauke wegzukommen, war ihm anzuhören. Auch die hatte Else in besagten fünf Jahren reichlich ausgeteilt. Wobei das immer weniger wurde – die Blicke reichten inzwischen. Darüber schmunzelte Else nun. Eigentlich machte es ihr gar nichts aus, hier und da einen Ball zurückzuwerfen. Oder einen Badeanzug. Sie nutze bloß gerne die Gelegenheit, den Kindern Respekt und Höflichkeit abzunötigen, denn beides zu lernen, das fand sie wichtig. Wobei das ihrer Ansicht nach durchaus für beide Seiten gelten sollte. Deshalb rief sie Tom noch ein lautes, jetzt freundliches „Bitte“ hinterher, bevor sie sich wieder ihrem Chinaschilf widmete.