Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 16.
Gerade noch war es herrlich ruhig gewesen in der sonnenbeschienenen Wohnsiedlung. Ein paar dezente Kinderstimmen aus dem Nachbargarten klangen zu Heinz und Else herüber, aber ansonsten herrschte sonntägliche Entspanntheit. Mit einem Schlag war das vorbei. „Huhuuuu!“, hallte es lautstark über das Gartentor, so dass es die halbe Nachbarschaft mitbekam. Und da folgte auch schon der Kopf von Irene, die mit breitem Lachen um die Ecke schaute und kurz darauf über den Zaun griff, um sich selbst hereinzulassen. Irene, Elses ältere Schwester, kam mit Ehemann Alfred zum immerhin angekündigten Besuch. Wie immer ein ganzes Stück zu früh und wie immer unüberhörbar. Else und Heinz waren gerade noch dabei, den Gartentisch zu decken. Und Else sah auch den gequälten Gesichtsausdruck auf Heinz Gesicht, bevor er sein professionelles „Wie-schön-dass-du-da-bist“-Lächeln aufsetzen konnte. Um es mal vorsichtig auszudrücken: Irene war nicht Heinz‘ liebste Verwandtschaft. Sie war ihm zu aufdringlich, zu laut. Er verglich sie gerne mit einem Zug, der einen jedes Mal überrollte, so sehr man sich auch auf ihn vorzubereiten versuchte. Es sollte auch dieses Mal wieder so kommen…
Aber zunächst ging Else ihrer Schwester fröhlich entgegen und nahm sie zur Begrüßung in den Arm. Es war und blieb halt ihre Schwester, mit allen Höhen und Tiefen aus vielen Erlebnissen, die ein solches Verhältnis mit sich brachte. Als nächstes hätte Else normalerweise auch Alfred umarmt, aber das ging gerade nicht. Erst musste Alfred das sehr große, längliche Packet zur Gartenbank hinüber balancieren und abstellen, das er im Arm trug. Inzwischen war auch Heinz herangekommen, hatte die herzliche Umarmung Irenes hinter sich gebracht, gab Alfred einen Handschlag und nun stand man im Halbkreis um das ominöse Packet herum. „Ihr Lieben, wir MUSSTEN euch das hier einfach mitbringen!“, begann Irene überschwänglich und gestikulierte ausschweifend mit den Armen. „Ein Kunstwerk! Wir haben es auf dem Wohltätigkeitsbasar unserer Kirchengemeinde entdeckt und waren sofort begeistert.“ Heinz schluckte schwer. Das hörte sich nicht gut an. Kunstwerke waren bekanntlich ziemliche Geschmackssache. Und die Geschmäcker von Irene und Heinz waren ungefähr so kompatibel wie ein Sterneküchen-Büffet mit einer Kiste voll Regenwürmer. Doch Irene war noch nicht fertig. „Stellt euch vor“, fuhr sie aufgedreht fort, „die Mitmachwerkstatt in unserem Dorf hat nun auch einen Töpferbereich. Von dort stammt auch dieses absolute Schmuckstück.“
Heinz, der sich von den Worten „Mitmachwerkstatt“ und „Töpfern“ wie von Stromstößen gequält fühlte, hielt es nicht mehr aus. Er trat vor und begann, das „Kunstwerk“ zu enthüllen. Irene fuhr derweil aufgeräumt fort mit ihrer Lobeshymne: „Es ist wirklich großartig, was dort ehrenamtlich alles gemacht wird. Es gibt verschiedene Kurse im künstlerischen Bereich. Aber auch zum Beispiel Kochkurse für finanziell Bedürftige und Freizeitangebote für Behinderte. Und es findet ganz viel Integrationsarbeit statt, Sprachkurse, oder einfach gemeinsames Handarbeiten, so dass neu zugezogene Menschen Anschluss finden. Ich finde, das muss man doch wertschätzen, nicht wahr? Man müsste ja schon ein emotionaler Klotz sein, wenn einen das nicht anspräche.“
Mit diesen Worten war das Schicksal von Heinz und Else dann wohl besiegelt. Wie konnte man gegen ein Produkt aus einer solch wichtigen Einrichtung sein? Sie würden keine Chance haben, das Ding NICHT zu mögen. Man wäre ja offensichtlich gegen Integrationsarbeit, gegen Behindertenarbeit, gegen Menschen überhaupt. Heinz beendete mit zusammengebissenen Zähnen seine Auspackarbeit und klammerte sich an das letzte Fünkchen Hoffnung in ihm, es könne doch etwas ganz Hübsches sein. Braunes Packpapier raschelte zu Boden und dann stand es vor ihnen, das Kunstwerk. Es war eines der scheußlichsten Dinger, die Heinz je gesehen hatte. Eine Stele aus einzelnen auf einem Stab arrangierten Töpferelementen in allen erdenklichen Farben. Dort erkannte man eine Art gelbe Kuh mit Fischschwanz. Das ganz oben könnte als lilafarbener Toaster durchgehen. Heinz taten die Augen weh. Und auch Else sah ein wenig grün aus um die Nase. „Ja…. Wunderbar, vielen Dank“, entrang sie sich eine Reaktion. Zum Glück schauten Irene und Alfred selbst noch immer begeistert auf das größte Kunstwerk aller Zeiten und sahen nicht die gequälten Gesichtsausdrücke ihrer Verwandten. So hatten diese Zeit durchzuatmen, sich zu fangen, sich abzuwenden und neue Kraft zu tanken aus dem Anblick des Erdbeerkuchens auf dem Kaffeetisch. Zu dem lud Else die Gesellschaft nun auch ein und schnitt ihn kurz darauf an. Derweil kümmerte sich Heinz um den Kaffee. Zum Glück hatten sie einen Automaten, der tassenweise frisch aufbrühte. So merkte niemand, dass in die letzte Tasse, die von Heinz, auch ein Schluck Cognac seinen Weg fand. Eine halbe Stunde und drei Tassen Kaffee später fand Heinz den Nachmittag schon gar nicht mehr so schlimm. Und für das Kunstwerk würden Else und er schon einen passenden Platz finden. Im Keller zum Beispiel.