Das Rentnerehepaar Heinz und Else erleben den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 2.
Als Else zum dritten Mal mit der vollen Gießkanne um den Wohnzimmertisch gelaufen war, senkte Heinz sein Kreuzworträtsel. „Was machst du denn da?“, fragte er von der Couch herüber. „Spazieren gehen“, antwortete Else, die nun ihren Weg an der Fensterbank vorübergehend beendete und anfing, die Blumen zu gießen. Heinz runzelte die Stirn. „Spazieren gehen. Macht man das nicht üblicherweise draußen? Und ohne Gießkanne?“, wagte er zu erwidern. Else pflückte ein paar trockene Blätter aus dem Philodendron und dreht sich dann um. „Schau doch mal raus, bei dem Wetter geh ich doch nicht draußen spazieren“, konterte sie. In der Tat, der Schneeregen matschte auf den Rasen und der Wind war ziemlich heftig. „Und darum spazierst du um den Wohnzimmertisch?“, war Heinz nun wieder zu hören. „Seit wenn denn das?“ „Seit diesem Jahr“, erklärte Else nachdrücklich. „Ich muss abnehmen und versuche, mich insgesamt mehr zu bewegen.“ Abnehmen. Bei Heinz schrillten die Alarmglocken. Er hätte vermutlich selbst darauf kommen können, schließlich war Januar. Die Zeit der guten Vorsätze. Und bei Else die klassische Zeit, sich über die zusätzlichen Pfunde von Weihnachten zu ärgern und ihr jährliches Januar-Ritual zu beginnen. Zu seiner Entschuldigung musste gesagt werden, dass dieses Ritual durchaus in den verschiedensten Ausprägungen auftauchte. Mal mit einer Diät, mal mit sportlichen Betätigungsversuchen. Über die Jahre seiner Ehe hatte er schon einige Varianten erlebt. Und er hatte eigentlich keine gemocht. Denn obwohl sie in der Regel sogar einigermaßen funktionierten und Else meist spätestens zu Beginn der Gartensaison im März damit aufhörte, waren die meisten unter dem Strich vor allem anstrengend gewesen. Für ihn anstrengend. Entweder hatte er die neuen Kochmethoden mit ausbaden müssen, oder der Süßigkeitenschrank blieb leer. In jedem Fall musste er stets die eher schlechte Laune seiner Frau aushalten. Er ging dann öfter im Büro in Deckung. Wofür er den nächsten Rüffel kassierte.
Nun also spazieren gehen um den Wohnzimmertisch. „Ich versuche, aus jeder Alltagstätigkeit mehr Bewegung herauszuholen. Dadurch werde ich quasi nebenbei fitter“, erklärte nun Else die diesjährige Methode. Heinz atmete auf. Das hieß immerhin, der Speiseplan dürfte sich nicht allzu gravierend ändern. Und Else würde wohl kaum erwarten, dass er mit ihr zusammen um den Wohnzimmertisch marschierte. „Du könntest das ruhig auch versuchen“, setzte da Else mit einem verschmitzten Grinsen nach, als sie mit der nun leeren Gießkanne ihren Rückweg dreimal um den Tisch antrat. „Ja, mache ich“, sagte Heinz und nahm sein Kreuzworträtsel wieder in die Hand. „Ich schreib ab sofort jeden Buchstaben dreimal.“ Elses vernichtenden Blick, bevor sie in der Küche verschwand, ignorierte er geflissentlich. Durchhalten, sagte er zu sich selbst. In acht Wochen verschwindet das Problem von alleine. Wie jedes Jahr.