Neulich am Gartenzaun – Frohes neues Jahr

Neulich am GartenzaunDas Rentnerehepaar Heinz und Else erleben den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 1.

„Frohes neues Jahr!“, hörte Heinz es über den Gartenzaun hallen. Er hob den Blick vom Blumenbeet, in dem er gerade die Austriebe der ersten Schneeglöckchen angeschaut hatte und sah auf die Straße, die an der Seite des kleinen Reihenhaus-Gartens entlangführte. Familie Janssen spazierte vorbei, die siebenjährigen Zwillinge Emilie und Hanna fröhlich vorneweg hüpfend. Sie winkten ihm lachend zu. „Frohes neues Jahr“, rief Heinz zurück und freute sich ehrlich über die gute Laune der Kinder. Mürrische Gesichter hatte er an diesem 1. Januar wahrlich schon genug gesehen. „Wie soll man sich über dieses Neujahr schon freuen“, hatte etwa der 83-jährige Walter wie immer genörgelt, als er mit seinem Dackel kurz am Zaun anhielt. „Corona hat uns alle weiter im Griff, die Wirtschaft steht schlecht da, und die Politik tut nichts.“ Heinz hatte wenig geantwortet. Ihm stand der Sinn nicht nach einer politischen Grundsatzdiskussion mit Walter. Nicht morgens um 9 Uhr an Neujahr. Natürlich hatte Walter nicht ganz unrecht, Corona und die Wirtschaftslage war nicht wegzudiskutieren. Aber für Heinz war es ein Tag, um nach vorne zu sehen, nicht nach hinten. Er freute sich, wieder ein neues Jahr zu erleben mit seinen immerhin schon 71 Lebensjahren. Er freute sich, dass seine Frau Else, ihre Kinder und Enkel gesund waren. Er freute sich auf ein neues Gartenjahr. Das hatte er auch dem jungen Mann zurufen mögen, der vorhin vorbeigestolpert war, den muffeligen Blick eisern auf sein Handy gerichtet. Natürlich, es gab leider vielerlei Gründe, an Neujahr nicht ausgelassen zu sein. Wenn man krank war oder gar einen geliebten Menschen kürzlich verloren hatte, womöglich wegen Corona. Wenn man finanziell schwere Sorgen hatte. Aber eines, fand Heinz, war wichtig: Nicht zu vergessen, welche Möglichkeiten wir alle doch hatten. „Solange wir auf dieser Erde sind, können wir immer irgendetwas Gutes tun. Und das sollten wir auch“, hatte er immer seinen eigenen Kindern gesagt. Und sei es nur, einem anderen Menschen zuzulächeln und damit zu zeigen, dass man sein Gegenüber bemerkte, respektierte, womöglich mochte. Oder, im Garten Schneeglöckchen zu pflanzen, über die sich dann all jene freuen konnten, die einfach nur den Willen mitbrachten, auch hinzuschauen.

 

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