Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 12.
Das erste, das Else beim Öffnen der Haustüre sah, war ein braun-schrumpeliges Etwas in einem Blumentopf, das ihr jemand entgegenstreckte. Dahinter wippte der Bommel einer blauen Strickmütze, an der sie Emil erkannte, ihren siebenjährigen Enkel. Thorsten, Elses Sohn, schloss im Herüberschlendern noch das Auto ab und stand dann mit einem frechen Grinsen hinter Emil. „Oma, du musst die Blume retten!“, krähte es unter der Bommelmütze hoffnungsvoll hervor. „Ähm, kommt erst mal rein“, sagte Else und machte den Weg frei. Die Kalanchoe – denn eine solche wollte das Gestrüpp wohl eigentlich sein – und das übermütige Grinsen wanderten an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Der Blumentopf wurde auf den Esstisch gestellt und Emil schaute seine Oma erwartungsvoll an. So, als müsse die jetzt irgendeinen Zauberspruch aufsagen oder ähnliches. „Wollt ihr die Jacken ausziehen, euch setzen?“, fragte Else. Doch Thorsten schüttelte den Kopf. „Wir sind nur von der Schule kurz rumgefahren, weil Emil eine Bitte an dich hat. Wir müssen gleich nach Hause, Marina wartet schon mit dem Mittagessen.“ Eine Bitte, soso. Else schwante etwas. Sie erinnerte sich noch hervorragend an eine ganze Reihe von halbtoten Pflanzen, die Thorsten im Laufe seiner Schulzeit mit nach Hause gebracht hatte. Meist vor den Ferien. Weil die armen Blumen ja versorgt werden mussten. „Und du kannst das doch so gut“, hatte der kleine Thorsten immer zu seiner Mama gesagt und sie mit großen, erwartungsvollen Augen angeschaut. Natürlich hatte Else den Auftrag angenommen, wie hätte sie ihren Sohn da enttäuschen können. Sie hatte trockene Blätter aus Grünlilien gezupft und gelbe Zyperngräser gedüngt, völlig verdorrte Drachenbäume gegossen und total verwässerte Elefantenfüße getrocknet. Sogar größere Kakteen umgetopft, mit dicken Handschuhen. Und am Ende der Ferien hatte Thorsten jedes Mal stolz erhobenen Hauptes eine wunderschöne Pflanze wieder mit in die Schule genommen und dafür das Lob seiner Lehrer erhalten. Else war sehr, sehr froh gewesen, als Thorsten mit der Schule fertig war und das Thema „Pflanzenrettung“ damit durch. Natürlich mochte sie Zimmerpflanzen und kümmerte sich um ihre inzwischen quasi täglich. Aber die sahen dann auch nicht aus wie jahrhundertealte Mumien. Wenn eine Pflanze trotz guter Pflege bei Else mal einging, dann kam sie weg. Sich wochenlang über eine Pflanzenleiche auf der Fensterbank zu ärgern, das war nicht Elses Ding.
Doch nun stand da ihr geliebter Enkel Emil mit diesem Käthchen, das alles tat, aber gewiss nicht mehr flammen. „Als Emil damit kam, habe ich ihm erzählt, wie du immer meine Schulpflanzen so wunderbar gerettet hast“, erklärte in diesem Moment Thorsten. „Und da meinte Emil, dann müsse die hier auch unbedingt zu dir in Pflege. Denn sie dürfe auf keinen Fall sterben.“ Emil nickte dazu eifrig. „Es ist doch ein Lebewesen!“, ergänzte der Junge mit bedeutungsvollem Blick. Was sollte Else da machen? Sie seufzte innerlich einmal, setzte ein Lächeln auf und beugte sich zu Emil runter mit den Worten „aber natürlich kümmere ich mich um deine Pflanze. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht wieder hinbekommen würden!“ Sie erntete ein strahlendes Lächeln und eine Umarmung von Emil, bevor Vater und Sohn sich verabschiedeten und zur Tür hinaus verschwanden.
Da stand Else nun vor diesem traurigen Bild von etwas, das mal eine Pflanze gewesen war, und überlegte, wo sie sie hinstellen sollte. Sie wollte ihr wirklich eine Chance geben, doch zwischen ihren bestens versorgten eigenen Gewächsen sah sie einfach nur furchtbar aus. Mitten in diesem Dilemma kam Heinz vom Einkaufen nach Hause. Sein Gesicht wurde zu einem einzigen Fragezeichen angesichts von Elses grübelndem Blick und der verkümmerten Kalanchoe in ihrer Hand. „Emil“, sagte Else nur seufzend. „Schulpflanze.“ Heinz brach in schallendes Gelächter aus. Er wusste natürlich, wie es um Elses Begeisterung für die Rettung von Schulpflanzen stand. „Willst du es mit ihr versuchen, oder kaufen wir direkt eine neue?“, fragte Heinz äußerst vergnügt, während er die Einkäufe abstellte. Else schickte ihm einen vernichtenden Blick hinüber. „Die Regeln haben sich nicht geändert“, erklärte sie Heinz dann und ging ins Gästebad. Hier bekam das Flammende Käthchen Wasser und einen Platz auf der kleinen Fensterbank. Mit erhobenem Zeigefinger blieb sie auf dem Rückweg vor Heinz stehen. „Sie wird vorerst gepflegt. Und wenn es nicht klappt, kaufen wir heimlich eine neue.“ „So, wie früher,“ antwortete Heinz betont. „So, wie früher“, bestätigte Else und grinste nun ebenfalls.