Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 5.
Heinz hatte absolut keine Chance, noch in Deckung zu gehen. Er stand mit dem Müllbeutel in der Hand neben seinen Tonnen am Grundstücksende, als das „Morgen, Heinz“ ihn erreichte. Er hätte den Weg zurück durchs Gartentor nicht mal im Laufschritt noch geschafft. Wäre auch nicht gerade unauffällig gewesen. Also atmete er tief durch und drehte sich um in Richtung der Stimme, die ihn gegrüßt hatte. Es war natürlich Walter, der mit Dackel Theo an der Leine den Fußweg heraufkam. Heinz kannte den 83-jährigen schon lange, und er war im Grunde auch nicht verkehrt, fand Heinz. Aber leider auch der Nörgler der Nation. Bei jedem Thema dabei und immer dagegen. „Walter, guten Morgen“, grüßte Heinz nun also tapfer mit einem freundlichen Lächeln zurück. Das „Wie geht es dir?“ hatte er sich bei Walter abgewöhnt, die Frage endete in der Regel in halbstündigen Tiraden über das ungesunde Wetter oder die unfähigen Ärzte. Aber natürlich hielt das den Nachbarn nicht davon ab, vor Heinz stehen zu bleiben. „Gestern die Nachrichten gesehen?“, setzte Walter an. Oha, eine politische Rede war im Anmarsch. „Ja sicher“, antwortete Heinz wahrheitsgemäß. Er erinnerte sich an Impfstoffdiskussionen, Brexit-Handelsbarrieren und Sportnachrichten, die im Fernsehen besprochen worden waren. Worüber würde Walter sich heute mokieren? „Schlimme Sache, damals“, fuhr Walter jedoch nun mit ungewohnt leiser Stimme fort, schaute bedrückt auf den Boden und schüttelte traurig den Kopf. Heinz stutzte, und dann verstand er. Sollte Walter tatsächlich den gestrigen Holocaust-Gedenktag meinen? Über das Thema hatten sie beide noch nie gesprochen. Walter war damals, vor 76 Jahren, sieben Jahre alt gewesen und dürfte somit einige Erinnerungen haben. Doch welcher Art? Hatten seine Eltern weggeschaut, mitgemacht, oder dagegen gekämpft? Heinz traute sich nicht zu fragen. Nicht so auf der Straße, neben den Mülltonnen, das war irgendwie unpassend. Doch Walter straffte sich jetzt und sagte bestimmt: „Darf nie wieder passieren!“ Schaute Heinz mit traurigen, aber bestimmt blickenden Augen an, hob grüßend die Hand und spazierte mit einem letzten „hab einen guten Tag“ um die Hausecke. Heinz blieb noch einen Moment stehen und blickte ihm nach. Erstaunt, bewegt, verärgert über seine eigene Reaktion, die ja eigentlich gar keine war. In diesem kurzen Treffen war Walter in Heinz Wertschätzung um ein erhebliches Stück gestiegen. Vielleicht würde er demnächst doch mal wieder fragen, wie es ihm so ginge. Und vielleicht traute er sich bei Gelegenheit, Walter nach seinen Erinnerungen zu fragen. Schließlich durfte man niemals vergessen. Niemals.
Eine sehr besondere und bewegende Episode, danke!