Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 13.
Der Frühling, dachte Heinz, als er in der Garage seine Gartenstiefel anzog, war eine merkwürdig schöne Jahreszeit. Zwölf Grad Celsius erschienen einem herrlich warm, während man im Herbst bei gleichen Temperaturen lieber vorsorglich den Schal aus dem Schrank holte. Der Mensch freute sich über jede der Wespen, über die er ein paar Wochen später am Kaffeetisch wieder fluchen würde. Und man stellte sich gerne zu einem Plauderstündchen mit den Nachbarn an den Gartenzaun; im Sommer hingegen würde man sich wieder einen besseren Sichtschutz an der Gartengrenze wünschte, um seine Ruhe zu haben. Natürlich nicht immer, aber: Alles schon erlebt. Wobei das seiner Ansicht nach eben einfach menschlich war. Was man lange nicht hatte, wünschte man sich sehnlich herbei. Bekommt man es dann aber im Übermaß, ist es eben auch nicht mehr schön. Zu viel ist zu viel.
Heinz schnappte sich die Schuffel und stiefelte in den sonnigen Garten hinaus. Heute war das Beet hinten neben dem Gartentor an der Reihe. Zwischen den gelb und weiß leuchtenden Osterglocken und den ersten kleinen Austrieben der Stauden hackte Heinz vorsichtig das Unkraut weg. Unkraut, dachte er dabei, war auch so ein gutes Beispiel. Als er als junger Mann seinen ersten Garten gehabt hatte (damals noch nicht mit Else verheiratet), hatte er mal den Ratschlag einer Tante befolgt und den Giersch in einer Ecke stehen lassen. „Den kann man super essen!“, hatte die ihm gesagt. Ja, konnte man. Aber wenn einem dann der halbe Garten durchwuchert wird, weil das wertvolle Küchenkraut schneller ist als der Magen und die Hacke, dann hat man den Salat. Ein gutes Mittelmaß ist eben der Königsweg, kreisten Heinz Gedanken weiter. Auch, wenn „Mittelmaß“ eher negativ klingt. Es erinnert an „Maß halten“, also sich zurücknehmen. Und das verstanden zu viele Menschen noch immer als persönliche Einschränkung und Kränkung. Verrückt. Man sollte das Mittelmaß nicht negativ verstehen, fand Heinz und schuffelte unter dem Riebes.
Eine Fahrradklingel ließ ihn den Kopf heben. Gerade kam Nachbar Janssen vorbeigeeilt. „Moin“, rief der nur kurz herüber, die Aktentasche unter dem Arm, und war schon wieder weg. Wohl auf dem Weg zur Arbeit. Der Janssen, der war auch so ein Beispiel, fand Heinz zurück in seinen Gedankengang. Er hetzte immer durch die Gegend, weil er Arbeit, Sportstudio, Familie unter einen Hut bringen wollte – aber bitte, ohne bei irgendwas Abstriche zu machen. Weniger Arbeiten ging nicht, man brauchte ja das Geld. Unter anderem, um das teure Fitnessstudio zu bezahlen, dass man ja brauchte als Ausgleich für die viele Arbeit. Finde den Fehler.
Meine Güte, dachte Heinz noch, heute war er aber wirklich sehr philosophisch. Das machte vermutlich die Frühlingsluft. Dann schuffelte er sich langsam weiter durchs Beet. Und entschloss sich schließlich, dass auch er nachher das Mittelmaß überschreiten würde. Nämlich sobald Else die Aprikosentorte fertig hatte. Davon würde er auf jeden Fall ein großes Stück nehmen, kein mittleres.