Das Rentnerehepaar Heinz und Else erlebt den ganz normalen Alltagswahnsinn mit ihren Nachbarn am Gartenzaun. Kurzgeschichten aus der Vorstadtsiedlung zum Lesen oder Überlesen. Episode 6.
„Hier!“, rief Heinz von der Couch aus und raschelte begeistert mit der Zeitung. „Hier, Else, schau. ‚Mehr Motivation trotz Lockdown-Langeweile‘, heißt dieser Artikel. Sehr interessant. Acht Tipps, wie man aus dem Motivationsloch herauskommt.“ Else steckte den Kopf durch die Küchentür und gab ein mäßig interessiertes „Aha“ von sich. Sie war gerade beim Kräuter hacken für das Mittagessen. (Es gab Ofenkartoffeln mit Kräuterquark und geräucherter Forelle). Und für später stand noch die Bügelwäsche auf der Agenda. Daher hatte sie eigentlich keinen Kopf für Heinz Vortrag. Aus Höflichkeit hörte sie dennoch zu, als ihr Mann fortfuhr, aus der Zeitung zu zitieren. „Tipp eins: sich ein klares Tagesziel stecken, um den inneren Schweinehund zu überwinden. Aber dabei nicht zu viel auf einmal wollen. Kleine Erfolgserlebnisse motivieren zu mehr.“ Else nickte vorsichtig. „Tipp zwei: Bewegung. Jeder Schritt zählt.“ Da Heinz Vortrag offensichtlich noch etwas dauern würde, nahm Else sich die Gießkanne, lief ihre drei Runden um den Tisch, wie sie es seit Anfang Januar tapfer durchhielt*, und goss schon mal die Blumen im Wohnzimmerfenster. „Tipp drei: Wenn das Wetter nicht nach einem Spaziergang aussieht, wenigstens gut Lüften. Frische Luft macht den Kopf frei.“ Heinz wurde immer begeisterter, während er sich durch die weiteren Tipps von „Gesundem Essen“ und „Aromatherapien aus der Apotheke“ über „Entrümpeln“ bis zu „Kleinigkeiten in der Wohnung verschönern“ am Zeitungstext weiterhangelte. Indessen hatte Else die Blumen fertig gegossen, den Beistelltisch aufgeräumt, und stand nun mit ein paar Zeitschriften in der Hand vor Heinz, der sie von der Couch aus erwartungsvoll anblickte. „Ich finde“, sagte er, „wir sollten davon mal was ausprobieren. Nicht, dass wir so arge Langeweile hätten, aber schaden kann es ja nicht.“ Else dachte an das gesunde Mittagessen, dass sie gerade kochte, an ihren Tagesplan mit der Bügelwäsche und dass sie jeden Morgen das Haus gut durchlüftete, besah sich die gegossenen Blumen, gab innerlich der Autorin des Zeitungsartikels absolut recht – und legte dann Heinz mit einem freundlichen Grinsen die Zeitschriften mitten in die ausgebreitete Zeitung. „Na,“ sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Dann fang doch mal irgendwo an.“ Drehte sich um und stiefelte gut gelaunt zurück in die Küche, während Heinz etwas verdattert abwechselnd auf die Zeitschriften und Else hinterher schaute.
*siehe Episode 2 von „Neulich am Gartenzaun“